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Mehr denken, weniger moralisieren

Täuscht der Eindruck, oder haben wir tatsächlich immer mehr Krisen und Probleme und sehen gleichzeitig immer weniger echte Lösungen? Eine namhafte deutsche Tageszeitung hat kürzlich den Versuch unternommen, eine Liste der wichtigsten Krisen zu machen und kam zum Schluss: Wir haben in Europa keine Krisen, sondern die Katastrophe ist schon eingetreten. Indes komplexe Probleme und Herausforderungen sind das Eine. Wie wir damit umgehen, ist das Andere und inzwischen Teil des Problems – und damit der Anfang von echten Lösungen.
Klaus Tschütscher
Klaus Tschütscher, ehemaliger Liechtensteiner Regierungschef. Heute Verwaltungsrat, unter anderem bei der Swiss Life Holding AG und der DMG Mori Europe Holding AG.

Bei genauem Hinsehen wird nämlich sichtbar, dass sich Recht und Moral bei immer mehr Lösungsversuchen vermischen. Immer mehr Interessensgruppen nehmen nicht mehr am öffentlichen Diskurs ausschliesslich um einer Sache Willen teil. Viele Gruppen versuchen vielmehr, ihre eigenen moralischen Ansprüche mehrheitsfähig zu machen und bisweilen bis auf Gesetzesstufe durchzusetzen. Das ist eine neue Form von Fundamentalismus und Missgunst. Eine verdeckte Vermischung von Recht und Moral gefährdet den liberalen Rechtsstaat bisheriger Prägung. Moral wertet. Ethische Grundwerte dagegen ermöglichen ein friedliches und produktives Zusammenleben einer Gesellschaft.


Recht und Moral
Der Grund für die Vermischung von Recht und Moral sind neue Anspruchshaltungen, die abgehoben haben und sich sachlich nicht mehr begründen lassen. Moralisch aber lässt sich alles begründen, wenn es einigermassen clever formuliert ist. Auch wenn Moral eigentlich Privatsache ist, so geschieht die Vermischung von Recht und Moral inzwischen in der grossen Weltgeschichte genauso wie in der Politik eines Kleinstaates. Ein diesbezüglich typischer Beobachtungsgegenstand für Liechtenstein ist die Debatte um die Neuregelung der Finanzierung der ausserhäuslichen Kinderbetreuung. Die Analyse, mit welchen Moralargumenten die Gegner der Neuregelung ihre Forderungen begründen, könnte aufschlussreich sein. Sicher ist, dass wenn sich im finalen Gesetzesvorschlag Recht mit Moral vermischen, die entsprechende Lösung nicht lange Bestand haben wird. Nicht nur in gesellschaftlichen Fragen kommt das Recht als Vehikel der Mehrheitsmoral zunehmend zum Einsatz. Auch die Wirtschaft ist davon betroffen. Ein Beispiel ist die sogenannte Corporate Social Responsibility (CSR). Sie gehört inzwischen zum guten Ton jedes grösseren Unternehmens und erhält zuweilen sogar staatliche Aufforderung. Zwei Wirtschaftssoziologen der Universitäten Zürich und Münster haben nun unlängst nachgewiesen, dass die mit der sozialen Verantwortung von Unternehmen vermeintlich verbundenen Effekte auf deren Rentabilität blanker Mythos, ja fauler Zauber sind. Alle 162 untersuchten Studien litten unter unerklärlichen methodischen Schwächen und tendierten zu positiven, sprich geschönten Ergebnissen, die mit der Realität wenig zu tun hatten.

Nicht nur in Gesellschaft und Wirtschaft verschwimmt die Linie zwischen Recht und Moral. Auch der Staat gebärdet sich vielerorten zunehmend als Vorkämpfer einer mahnenden, moralischeren Welt. Konkret wird das vor allem auf den Feldern Gerechtigkeit und Prävention. Mehrheitsmoralitäten finden inzwischen Anwendung in den Bereichen Straftaten, Ernährung, Alkohol oder Bildung. Moral ist in der Zivilisationsgeschichte immer dann aktiviert worden, wenn offene Fragen im Rahmen rechtlicher oder sozialer Kontexte nicht mehr lösbar schienen. So einen Moment erleben wir gerade.

Im liberalen Rechtsstaat klassischer Prägung aber muss der Staat seine Finger von Gesinnungen lassen. Wie kann er sich vor einer schleichenden Vereinnahmung einer fundamentalistischen Mehrheitsmoral schützen? In erster Linie mit sachlichen Analysen und guten Argumenten. Aufgrund der Komplexität der Herausforderungen können die Verantwortungsträger dies aber oftmals nicht mehr selber leisten. Es braucht Denk- und Analysehilfen. Zum Beispiel in Form von unabhängigen Denkfabriken. Die Stiftung Zukunft.li oder Avenir Suisse sind Analyse-Werkstätten, die diese Hilfe leisten können. Der Rückgriff auf ihre Kompetenz und Erfahrung wird für den Rechtsstaat liberaler Prägung entscheidend wichtig sein.

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