Weltbürger
Es hiess, das Münchner Bürgertum habe sich schrecklich daneben benommen – an einer Lesung von Thilo Sarrazin, dem umstrittenen Ex-Politiker und Bücherschreiber. Als Kritik gegen Sarrazin vorgebracht wurde, sei gebuht, lautstark dazwischengerufen und gegeifert worden. Die nackte Wut sei durchgebrochen, das gutbürgerliche Publikum habe seine «Contenance» verloren.
Von diesem Zwischenfall im Herbst 2010 aus, der in Bezug zum Protest zu «Stuttgart 21» gestellt wurde, entwickelte sich der Begriff «Wutbürger». Ein Begriff, der heute ausgedehnt über das Bürgertum hinaus, für alle vehementen, häufig mit grosser Emotion und Irrationalität vorgebrachten Proteste steht, die sich gegen die Politik aber teilweise auch die Wirtschaft richten.
«Gegen» fast alles
Fakten spielen kaum oder nur eine untergeordnete Rolle, die eigene Wahrnehmung eines bestimmten Sachverhaltes oder einer Sachverhaltsgruppe befeuern die Emotionen und radikal vorgetragene Lösungen erscheinen als probates Mittel, um die Emotion wieder ins Lot zu bringen. Dabei richtet sich die Emotion und Radikalität in der Regel «gegen» etwas, gegen «die Lieben und Netten», gegen «die Lügenpresse», gegen «Flüchtlinge», gegen «die da Oben», gegen ,die EU», gegen «gefälschte Wahlergebnisse». Und unbestritten ist schliesslich, dass sie kraft der Radikalität der «Lösungen» dem rational denkenden, nicht von der Emotion mitgerissenen Betrachter ein gehöriges Mass an Respekt einflössen.
Zwei Dinge lohnen einer genaueren Betrachtung: Zum einen, woher diese Bewegung kommt, was bewegt die Bewegten? Und zum anderen, wie soll darauf – falls überhaupt – geantwortet werden?
Ohnmacht und Wut
Interessant ist, dass sich das Phänomen «Wutbürger», nicht nur regional, sondern weltweit und das mehr oder weniger gleichzeitig feststellen lässt. Es ist losgelöst von Sprache, Religion, Rasse oder Ethnie. Es ist (fast) losgelöst von politischer Beherrschungsform, wenn auch Demokratien und Oligarchien am stärksten davon betroffen sind. Es findet sich genauso auf den Philippinen wie in Venezuela, in Brasilien, den USA und Deutschland. Ursprung der Wutbürger-Radikalität sind Angst und Verzweiflung, Ohnmacht und eben Wut. Wut gegen den Lauf der Dinge, gegen das, was an einem „«vorbei läuft», all das worauf man keinen Einfluss zu haben vermeint. Es ist die Angst, dass das Bestehende, das Vertraute nicht länger Bestand haben kann. Diese Angst kann auf die jetzt in voller Wucht bei der Bürgerin, dem Bürger angekommene tektonische Verschiebung der Globalisierung zurückgeführt werden. Die Technik, die Digitalisierung lässt eine derartig gigantische und gänzlich unübersichtliche Verschiebung erwarten, dass sich in dieser Gemengelage von unübersichtlichen Gefühlslagen Ohnmacht, Angst und Verzweiflung bis zum Siedepunkt ansammeln. Gefühlt ist die (lokale) Welt aus den Fugen, ist nichts mehr «richtig», ist alles irgendwie «falsch». Die Globalisierung führt auch zu immer grösserem Wohlstandsgefälle, so dass Menschen sich in Bewegung setzen, von A nach B durch die halbe Welt. Meist von Ländern mit schwacher Wirtschaft, schwacher Infrastruktur zu Ländern mit stärkerer Wirtschaft und Infrastruktur. Diese Bewegung verstärkt das Ohnmachtsgefühl und führt zum verzweifelten dringlichen Widerstand, ohne Contenance.
Das betrifft natürlich nicht alle. Jene, die rein rational und zukunftsgerichtet nach vorne blicken, denen echte oder vermeintliche Verwerfungen nichts auszumachen scheinen, schauen diesem Treiben eher fassungs- und ratlos zu. Die Folge dessen ist absolutes Unverständnis füreinander.
Nach vorne schauen
Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sind deshalb besonders gefordert. Fortschritt als solcher und die industrielle Revolution 4.0 lassen sich weder stoppen noch eindämmen. Die Unsicherheit wird bleiben; um Arbeitsplatz, gesellschaftliche Stellung und die eigenen Zukunftschancen. Und doch bleibt am Ende nur der Blick nach vorn. Für Politik und Wirtschaft ist die Aufgabe des Erläuterns – auch und gerade von unangenehmen Wahrheiten – unabdingbar, nur Klarheit bringt Sicherheit. Denn einfaches voranschreiten, ohne Blick in Seiten- und Rückspiegel wird das Problem der Unfassbaren nicht mindern können, sondern lediglich weiter eskalieren.
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